Die Erfahrungen von Theodor Wuttke

Portrait Im Alter von 12 wurde bei Theodor Wuttke ADS diagnostiziert. Die Medikamente, die er daraufhin einnahm, lösten bei ihm starke Nebenwirkungen aus. Die Tabletten hat er inzwischen abgesetzt und gelernt, auch ohne sie gut zu leben. Zum Interviewzeitpunkt ist Theodor Wuttke 21 Jahre alt und hat einer Veröffentlichung seines Interviews in der Videoversion zugestimmt.

Theodor Wuttke weiß bis heute nicht, nicht wie das ist: sich zu entspannen oder einfach mal abzuschalten. „Der ADSler“, sagt er, „kann den Standby-Modus nicht einschalten […] Der existiert nicht.“ Manchmal, wenn es ihm zu viel wird, macht er einfach die Augen zu und hört nur noch. Das ist einer seiner Tricks, um weniger Einflüsse an sich heranzulassen. Ganz unterbinden, kann er sie aber nie. Wenn er Zuhause bleibt, nicht redet und keinen Computer benutzt, fühlt er sich besser. So hat er auch weniger Kopfschmerzen, die sein Leben normalerweise begleiten. Aber dauerhaft gar nichts zu machen, findet er auch nicht so toll. Also nimmt er die Schmerzen in Kauf. Er hat gelernt, sich mit ihnen zu arrangieren, und Strategien entwickelt, um ohne Medikamente zu leben.

Die Diagnose ADS erlaubte ihm, seine vorherigen Verhaltensweisen besser zu verstehen. Schon als Baby sortierte er die Wäscheklammern, die ihm seine Eltern zum Spielen gaben, nach Farben und formte sie sorgfältig zu einem Kreis. Mit den vielen äußeren Einflüssen im Kindergarten und später in der Schule war er jedoch überfordert. Seine Eltern haben ihm erzählt, wie er sich als kleines Kind auf die Erde geworfen und gerufen habe: „Ich mag nicht mehr, ich bin voll“. In der Schule legte er manchmal den Kopf auf den Tisch, er wollte dann einfach nur weg. Als er erst sechs Jahre alt war, versuchte er sich das Leben nehmen, schon bald folgte ein zweiter Versuch.

Die Familie siedelte etwas später ins Ausland um. In der dortigen weiterführenden Schule geriet er in eine Außenseiterposition. Da er die Sprache kaum beherrschte, konnte er sich nicht verbal wehren oder die anderen Kinder einfach fragen, warum sie ihm gegenüber so gemein waren. Er hatte den Eindruck, dass auch seine Lehrkraft ihren Frust an ihm ausließ. Theodor reagierte mit Rückzug, aber auch mit Aggressionen. Nach einer körperlichen Auseinandersetzung mit seinem Lehrer musste er die Schule wechseln.

In diesem Zusammenhang ließ er sich ärztlich untersuchen – mit dem Ergebnis „ADS“. Eine medikamentöse Behandlung wurde ihm nun geradezu aufgedrängt. Fünf Jahre lang, von der fünften bis zu zehnten Klasse, nahm Theodor fast durchgehend Tabletten (Ritalin). Die Medikamente halfen ihm, sich im Unterricht besser zu konzentrieren. Er machte nun regelmäßig Hausaufgaben und erhielt bessere Noten. Obwohl er die Schule, nicht aber die Schulform, wechselte, brachte er nun statt Fünfern und Sechsern häufiger Einser und Zweier nach Hause.

Die Medikamente hatten aber auch starke Nebenwirkungen. Im Interview wägt Theodor Vor- und Nachteile ab: Ritalin sei „kein Medikament, das dafür sorgt, dass das Problem behoben ist, sondern es sorgt dafür, dass das Problem nur kurzzeitig außer Gefecht gesetzt wird.“ Wenn am Abend die Wirkung nachließ, fühlte er sich oft körperlich schlecht, hatte starke Kopfschmerzen, Augenschmerzen, Ohrenschmerzen, teilweise auch Gleichgewichtsstörungen. Er merkte immer wieder, wie sich sein Verhalten, manchmal sogar Charakter mit und ohne Medikamente veränderte. Als er die Medikamente einmal heimlich absetzte, fiel das seinem Lehrer gleich auf. Er war hibbeliger, fing an im Unterricht zu tagträumen und war nicht bei der Sache. Doch auch seine Eltern bemerkten eine Veränderung. Er war seltener genervt und öfters fröhlich. Ohne Tabletten fühlt er sich insgesamt besser. Seit der zehnten Klasse hat er sie fast ganz abgesetzt, nimmt sie nur noch, wenn er sich stark konzentrieren muss. Er sei „wieder der alte Mensch, das was ich eigentlich bin“. Dazu gehört auch, dass er verträumt, aber auch verspielt und kreativ ist. Ohne Tabletten drehen sich seine Gedanken weniger um sich selbst, sondern mehr um seine Umwelt. Er geht offener auf seine Mitmenschen zu.

Damit er aber auch ohne Medikamente nicht „komplett verpeilt durch die Gegend läuft“, entwickelte Theodor verschiedene Strategien für den Alltag. Es hilft ihm zu zeichnen und Musik zu hören. Zudem suchte er das Gespräch zu seinen Lehrkräften, erklärte ihnen seine Problematik und bat sie beispielsweise, den Unterricht im Ernstfall für kurze Zeit verlassen zu dürfen. Danach kann er sich dann wieder besser konzentrieren. Außerdem half ihm der Kontakt zu einem Therapeuten, sich selber besser zu verstehen. Zum Interviewzeitpunkt hatte Theodor eine Ausbildung im Bereich Ergotherapie begonnen.

Das Interview wurde 31.01.2015 geführt.

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